Im
Gegensatz zu den vorangegangenen, ungelösten Rätseln der Menschheit, entfaltet sich das
Mysterium abstrakter Kunst praktisch von selbst. Und wie schon bei der Autobahnbaustelle
an der A1, der lnspektionsrechnung, dem Deutschen Wohnwagen oder dem Schreibtisch im
Bauordnungsamt sind es auch im nächsten Werk eben nicht die populären Avantgardisten,
sondern Menschen wie du und ich, die scheinbar unbeabsichtigt Großes schaffen. Ein
kleines Hungergefühl zu später Stunde führt im Folgenden zu unverhofftem Kunstgenuß.
"Igittt,
Liebling, nichts wie 'raus hier!" sagte einmal ein durchreisender Geschäftsmann aus
dem Westfälischen zu seiner Gattin in Verkennung des Kunstwerkes, das wir heute einmal
näher betrachten wollen. Obwohl unverkennbar in der Tradition der norditalienischen
Spätgymnastik, stehen wir hier vor einem Deckengemälde, das mit den traditionellen
Deckengemälden eines Michelangelo nur noch wenig gemein hat. Scheinbar regellos und im
willkürlichen Nebeneinander wollen sich die hingetupften Fragmente vor unseren Augen
zerstreuen, um sich bei näherem Schauen zu einem Spiegel des Lebens wieder
zusammenzufinden.
Da ist der prall gefüllte Aschenbecher in der Bildmitte. Großherzig läßt er die
Umgebung an seinem Uberfluß teilhaben und hüllt ein verlorenes Salatblatt in tristes
Grau. Zerknüllte Servietten scharen sich wie schutzsuchende Polarfuchswelpen unter ein
Alpenveilchen, das - von einem verschmähten Amaretto getränkt - seine Blütenpracht
über eine tote Garnele wirft, als wolle es die verdorrten Gebeine eines Kameraden mit
einem Feldmantel bedecken. Eine festgetrocknete Pepperoni stemmt sich mit letzter Kraft
gegen ein Lambrusco-Rinnsal, das zunächst spielerisch nach links ausweicht, um sich dann
doch in einem angebissenen Stück gekrusteten Weißbrots zu verlieren, gleichsam wie der
Strom des Glücks im Schwamm der Zeit. Vor allem die Symbole der Angst und der Gefahr sind
es, die den Gast zunächst vor dem Kunstwerk zurückschrecken lassen.
Da
sind die beiden schwarzen Oliven am linken Bildrand; einer Gemüsepizza entrissen, lauern
sie unbeweglich in einer schwarzen Espressopfütze wie Ölfrüchte in einem Kaffeerest,
als wollten Sie aller Welt zurufen: Seht her! Wir sind doch nur Beilagen im schwarzen Meer
des Ungeschicks! Arrogant und feindselig schlängelt sich eine grüne Bandnudel durch das
gleich einem Lavastrom erkaltete Wachs einer längst verloschenen Kerze. Beim ungeübten
Betrachter verursacht dieses Deckengemälde vordergründig den Wunsch nach Distanz.
So ist es auch nur der strikten Annahmeverweigerung der Wäscherei Görtemöller zu
verdanken, daß uns das Kunstwerk im Originalzustand erhalten ist. Seine Schöpfer haben
es aus Bescheidenheit und vielleicht auch aus Furcht vor vergänglichem Ruhm ohne Signatur
hinterlassen. In Form und Farbgebung wird es heute auf das Zusammenwirken einer
niedersächsischen Busreisegruppe mit einer studentischen Wohngemeinschaft aus dem
Süddeutschen zurückgeführt.
Das Original ist gerettet - doch die Nachahmer lauern überall.
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